Mehrere Zuhause für Kinder nach Trennung

München. Seit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 und der Stärkung der Rechte von unverheirateten Vätern in jüngerer Zeit hat sich das gemeinsame Sorgerecht nach Trennung oder Scheidung in Deutschland zunehmend als Normalfall etabliert. Infolgedessen findet Familienleben für viele Kinder und Jugendliche nicht mehr in einem einzigen Haushalt statt, sondern in den jeweiligen Haushalten ihrer getrennt lebenden Eltern - mitunter an weit voneinander entfernten Orten. Ergebnisse der von der VolkswagenStiftung geförderten Schumpeter-Nachwuchsgruppe „Multilokalität von Familie“ am DJI geben näheren Aufschluss darüber, in welch unterschiedlichen Familien- und Wohnarrangements Kinder nach einer Trennung der Eltern aufwachsen, wie häufig sie Mutter und Vater sehen und welchen Einfluss Wohnentfernungen sowie das Sorgerecht darauf haben. Sie zeigen auch deutlich, vor welche neuen emotionalen, organisatorischen und kommunikativen Herausforderungen das „Doing Family“ an mehreren Orten Kinder wie Eltern stellt und welche Umgangspraktiken Familien für den mehrörtigen Alltag entwickeln.

Sechs Formen von Nachtrennungsfamilien

Jede sechste Familie ist eine Nachtrennungsfamilie Nach Auswertungen des DJI-Surveys AID:A - „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ haben in Deutschland inzwischen mindestens 12,5 Prozent der Minderjährigen getrennt lebende Eltern. Nach konservativen Schätzungen führen derzeit knapp eine Million Kinder und Jugendliche ein multilokales Familienleben, d.h. sie leben in kürzeren oder längeren Intervallen abwechselnd im Haushalt der Mutter und des Vaters.

Mit den AID:A-Daten können sechs Formen von Nachtrennungsfamilien unterschieden werden: In knapp der Hälfte aller Nachtrennungsfamilien sind die Mütter oder Väter, bei denen die minderjährigen Kinder leben, noch keine neue Partnerschaft eingegangen. Gut ein Viertel dieser Gruppe der getrennt lebenden Eltern lebt von Arbeitslosengeld II. Die ökonomische Situation in Single-Mütter-Haushalten ist deutlich häufiger prekär als in Paarhaushalten nach einer Trennung. Sehr viel seltener als der Single-Mutter- oder Vater-Typus sind Patchworkfamilien vertreten, in denen beide Partner Kinder aus Ex-Beziehungen mitbringen oder zusätzlich ein gemeinsames weiteres Kind im Haushalt lebt.

Geringe Wohnentfernung des getrennt lebenden Elternteils und gemeinsames Sorgerecht befördern intensive Kontakte zum Kind


Die AID:A-Ergebnisse zeigen, dass bei immerhin 34 Prozent der Kinder von getrennt lebenden Eltern, der Elternteil, bei dem die Kinder nicht hauptsächlich wohnen, dennoch regen Anteil an deren Leben nimmt. Die eine Hälfte dieser Väter oder Mütter trifft ihr Kind bzw. ihre Kinder mehrmals in der Woche oder sogar täglich. Die andere Hälfte telefoniert, chattet, mailt mehrmals wöchentlich oder sogar täglich mit ihnen. Wird das Sorgerecht von beiden Eltern gemeinsam wahrgenommen, haben Kinder mehr als doppelt so häufig mit ihrem extern lebenden Elternteil mehrmaligen Kontakt in der Woche als Kinder, bei denen ein Elternteil das alleinige Sorgerecht besitzt.

Auch räumliche Nähe der Wohnorte der getrennt lebenden Eltern begünstigt häufige Eltern-Kind-Kontakte. Wohnen Vater oder Mutter und ihre Kinder nach einer Trennung weiterhin räumlich sehr nah beieinander, sehen sich mehr als ein Drittel täglich oder mehrmals die Woche. Ein weiteres Sechstel trifft sich zwar nicht so häufig, telefoniert aber stattdessen. Zum Zeitpunkt der Befragung war jedoch bei mehr als 11 Prozent der Familien, bei denen Vater/Mutter und Kind höchstens 15 Fußminuten auseinander wohnen, der Kontakt abgebrochen. Obwohl die Kontakte knapp dreimal so häufig - zumindest zeitweise - abbrechen, wenn Vater/Mutter und Kind mehr als eine Stunde Fahrtzeit auseinander wohnen, treffen sich immerhin noch 13 Prozent dieser Väter/Mütter und Kinder regelmäßig alle zwei Wochen. Die fehlende Möglichkeit, sich mehrmals pro Woche zu sehen, ersetzt ein Teil der Befragten durch Telefonieren oder Mailen mehrmals wöchentlich.

Zwei Zuhause zu haben wird für viele Kinder zur Normalität


Auch wenn eine Trennung oder Scheidung der Eltern für die Kinder ein einschneidendes Erlebnis ist, wird das Alltagsleben an zwei Orten sowie das Pendeln zwischen diesen für sie nach einiger Zeit zur Normalität. Die Ergebnisse der ethnographischen Studie „Multilokales Familienleben nach Scheidung oder Trennung“ zeigen darüber hinaus, dass sich die Kinder Praktiken aneignen, um mit den vielfältigen und zum Teil auch widersprüchlichen Bezügen ihres multilokalen Alltags umzugehen. „Sie entwickeln multiple emotionale Ortsbezüge und Zugehörigkeitsmuster, fühlen sich an zwei Orten zu Hause und betrachten Mutter und Vater weiterhin als Teil ihrer Familie“, so Projektleiterin Dr. Michaela Schier. Dies gilt sowohl für die Kinder, die überwiegend bei einem Elternteil, meist der Mutter, leben, als auch für jene, die gleich viel Zeit mit beiden Elternteilen verbringen.

Ethnographische Studie identifiziert bei Kindern in Nachtrennungsfamilien vier Muster der alltäglichen Lebensführung

Die qualitative Studie unterscheidet zudem vier Muster, wie Kinder mit ihrem Leben in zwei familialen Alltagswelten umgehen: Kinder, die ihre Lebenswelten bei Vater und Mutter als sehr kontrastreich erleben, passen sich entweder dem stark reglementierten Ablauf des einen Haushalts an, während sie bewusst die Freiheiten beim anderen Elternteil genießen (Muster 1), oder aber sie nehmen diese Unterschiedlichkeit als Chance wahr, das Beste aus beiden Welten zu nutzen (Muster 2). Die geringste Anpassungsleistung ist von Kindern gefordert, die ihren Alltag bei Vater und Mutter als sehr ähnlich wahrnehmen und die aufgrund der räumlichen Nähe der elterlichen Wohnungen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort eine hohe Konstanz der sozialen Kontakte sowie der Einbindung in Betreuungs-, Bildungs- und Freizeitangeboten erleben (Muster 3). Es gibt aber auch Kinder, die trotz großer räumlicher Entfernungen ihr Leben bei Vater und Mutter als gleichartig wahrnehmen und an beiden Lebensorten ein sehr ähnliches Freizeit- und Sozialleben führen (Muster 4).

Eltern begegnen neuen Anforderungen des multilokalen Familienlebens kreativ

„Unabhängig davon, ob die getrennt lebenden Eltern ein sehr konflikthaftes oder ein eher harmonisches Verhältnis zueinander haben, entwickeln die Eltern aktiv multilokaler Kinder in unserer Studie Praktiken in vier verschiedenen Bereichen, um den Anforderungen eines multilokalen Familienlebens zu begegnen“, sagt Projektmitarbeiterin Anna Proske im DJI-Interview.: „Sie koordinieren erstens den multilokalen Alltag der Kinder, zweitens fördern sie die sozialräumliche Verortung der Kinder an zwei Wohnorten. Sie entwickeln zum Dritten Praktiken, um Nähe trotz räumlicher Distanz herzustellen und leisten viertens „Emotionsarbeit“. Multilokales Familienleben nicht per se schlecht für Kinder Aus entwicklungspsychologischer Sicht spreche grundsätzlich nichts gegen ein kontinuierliches multilokales Familienleben wie z.B. im 50/50-Vater/Mutter-Wechselmodell, sofern die Kinder zu beiden Eltern von Beginn an starke Bindungen aufbauen konnten, so der Entwicklungspsychologe Ass.-Prof. Dr. Harald Werneck von der Universität Wien in seinem „Blick von außen“, der die im DJI Online Thema vorgestellten Ergebnisse ergänzt. Entscheidend für das Kindeswohl seien in erster Linie eine fortgesetzte Bereitschaft und Fähigkeit beider Eltern zu Kooperation und Kommunikation sowie eine sichere Bindung des Kindes zu beiden Elternteilen.

Diesem Faktum trage man beispielsweise in Norwegen dadurch Rechnung, berichtet Dr. Gry Mette D. Haugen von der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim in ihrem Gastbeitrag, dass ein Scheidungsantrag vom zuständigen Standesbeamten erst nach einer Familienmediation bearbeitet werde. Nichteheliche Lebensgemeinschaften müssten eine Familienmediation nachweisen, bevor sie Sozialleistungen beim Staat beantragen könnten. Für Berater und Mediatoren wie Eltern können die Erkenntnisse der bislang noch wenig erforschten Alltagspraktiken multilokal lebender Familien mit Blick auf Unterstützung und Beratung im alltäglichen Umgang mit den Anforderungen eines multilokalen Familienlebens von besonderem Interesse sein.

Projektinformationen:
Die sekundäranalytischen Auswertungen des DJI-Surveys AID:A - „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ sowie die ethnographische Studie „Multilokales Familienleben nach Trennung oder Scheidung“ sind Teil eines breiter angelegten Forschungsdesigns der Schumpeter-Nachwuchsgruppe „Multilokalität von Familie“. Die Nachwuchsforschungsgruppe ist am DJI in der Abteilung Familie und Familienpolitik angesiedelt und wird von der VolkswagenStiftung gefördert. Das Projektdesign umfasst zusätzlich eine zweite qualitative Studie zur Multilokalität von Familie, die durch unterschiedliche Formen von beruflicher Mobilität bedingt ist.

Mehr:

www.dji.de/thema/1112

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  • Quelle: red
  • Geändert am: 22.12.2011 - 08:57 Uhr
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